Prolog

Barfüßig durch die Straßen. Schau, wo Du Dich bewegst! Sich barfüßig im Stadtraum bewegen, steigert außer Zweifel die Aufmerksamkeit. Diese natürlichste Form des Gehens setzte ich dem bedachtsamen Ergründen eher wenig beachteter Verkehrswege oder städtischer Bereiche gleich. Abschätzig sowie als Abgrenzung zur universitären Geschichtsforschung benutzte man zu Beginn der 80ger Jahre in der BRD den Begriff „Barfußhistoriker“. Damals entstanden sogenannte Geschichtswerkstätten, in denen sich primär historisch interessierte Laien mit der Geschichte vor Ort auseinandersetzten. Im Mittelpunkt dieses von dem schwedischen Sachbuchautor Sven Lindqvist angeregten Engagements, stand die Geschichte von unten, die Alltagsgeschichte, ein Bereich, der bis heute wenig Aufmerksamkeit findet. Mit diesem progressiven Anspruch sollte die regionale Geschichte erfahrbarer werden. Die sinnbildhafte barfüßige Bewegung in einem definierten öffentlichen Verkehrsraum ist eher ein heuristisches kulturelles Konzept. Dabei bringe ich diesen Ort in Beziehung zu dessen Protagonisten, der Geschichte wie dem Zeitgeschehen. Bewusst spielerisch illustriert die Kombination von amateurhaft erstellten, historischen Bildmaterial mit privaten und frei zugänglichen Daten Einmaligkeit wie Authentizität dieses Ortes. Auf den ersten Blick zeigt sich so eine Gemischtwarensammlung, welches mit Wörtern, Begriffen, Namen und Zahlen befüllt ist. Obwohl außer Zweifel limitierte Informationen aufgrund potenzieller Datenverluste sowie schlichtem Vergessen zu beachten sind, beschreibt die Collage letztendlich eindeutig diesen öffentlichen Bereich. Jede Form eines musealisierenden Anklangs versuche ich bewusst zu vermeiden. Wenngleich viele Identitäten und Symbole im Laufe der Zeit verloren gingen, die den Menschen früher Halt gaben, soll hiermit weder bewahrt oder konserviert werden. Vielmehr ein Stück Verbindung, ein Gefühl von Dauerhaftigkeit wie die Akzeptanz der Veränderung, vielleicht sogar ein wenig Hoffnung auf Identität sind Zweck des Projektes. Der Mensch, der Akteur des öffentlichen Raumes, steht mit seinen hinterlassenen Spuren im Mittelpunkt. Und Menschen verfügen über die Fähigkeit zur Erinnerung. Jedoch existiert Geschichte nur dort, wo eine aktuelle Fragestellung sie angestoßen hat. Auch unscheinbare Orte im städtischen Raum besitzen ihr Gestern, wie es das Heute gibt.

Poster

Pilot

Barfüßig durch die Franz-Flemming. Schau, wo Du Dich bewegst! Straßen wie diese erinnern nicht gerade an die Schlossallee. 150 Jahre scheint inzwischen dieser Verkehrsweg zu bestehen. Logischerweise veränderte sich Einiges in solcher Frist. Fast fünf Generation lebten, arbeiteten oder tangierten die Franz-Flemming-Straße – folgend kurz die FF. Hier und jetzt ein Versuch frank und frei betreffende reichlich eineinhalb Kilometer Verkehrsweg näher zu betrachten, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Daten, Namen und regionalgeschichtliche Besonderheiten finden sich schnell. Doch wer arbeitete einst an diesem Ort oder kam dazu hierher? Und wer wohnte in der FF? Wie kann man sich den Alltag inmitten der Produktionsstätten vorstellen? Ein Industriegürtel entstand Ende des 19. Jahrhunderts entlang der Eisenbahnstrecke Leipzig-Leutzsch-Zeitz. Die Eisenbahnstraße, heute Teil der FF, legte man in ihrem Verlauf dieser Strecke an. Im Jahr 1874 gründet der spätere Sächsische Kommerzienrat Hermann Franz Flemming eine Flügel- und Pianomechaniken-Fabrik. Hergestellt wurden Mechaniken für Flügel und Pianinos sowie Teile für Flügel und Pianino-Mechaniken. Das ist belegt. Und was wurde wann in der Straße gleichfalls produziert? Unzählige Fragen entstehen wie weitere Fragen in der Suche nach Antwort folgen. Rasch kam sehr wahrscheinlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung. Jahrzehnte, fast einhundert Jahre später hinterließ die Deindustrialisierung Ruinen und Brachen. Zwischen diesen tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen liegen dramatische Ereignisse, welche definitiv Wirkung auf die FF hatten. Vor drei Jahrzehnten lehrte sie sich wie andere Straßen ehemaliger Industrieregionen. Und jetzt also ist die postindustrielle oder postmoderne Informationsgesellschaft in dieser Region angekommen? In manchen Resten der einstigen Gewerbe- und Industriebauten entsteht heute Kunst. Junge Menschen, Kunstschaffende – Kreative unterschiedlicher Metiers – nutzen das Terrain. Dienstleistungen werden erbracht. Von Zeit zu Zeit öffnen sich die Ateliers. Findet sich das Motiv für die Ansiedelung an der FF in dem schwer in Worte zu fassenden Gemisch von Brache, Verfall und Weite, besser gesagt – von scheinbar noch unendlich Platz einigermaßen bezahlbaren Ateliermieten? Oder ist es das schwer in Worte zu fassende Gemisch von Brache, Verfall und Weite, besser gesagt – von scheinbar noch unendlich Platz für Kreativität? Irgendwo dazwischen wird die momentane Attraktivität dieser Gegend zu finden sein. Ein Allerlei von Ateliers, über eine Zeit lang OFF-Theater, Sport, Werkstätten, Wohnen und Trödel zeigt sich. Eine FF-Zweckgemeinschaft? Oder gibt es hier etwas Verbindendes zwischen den Zeiten wie zwischen den Gewerken, etwas Identität? Gibt es DAS typische, das möglicherweise Einmalige der FF? Welche Bilder erscheinen unter FF im Kopfkino? Und was findet sich an Bilddokumenten in längst vergessenen Alben oder Archiven? Die FF eine Straße von vielen in Gewerbe-Mischgebieten oder die Straße mit ihrem speziellen Charme?